Standortanpassung über Taglängenreaktion und Vernalisation
Während eine Sommergetreidesorte unter Berücksichtigung ihrer Reife weltweit in unterschiedlichsten Klimaregionen kultiviert werden kann, ist die ökologische Streubreite einer Wintergetreidesorte viel geringer. Diese soll im Jugendstadium mehr oder weniger lange und kalte Winter überstehen und darf im Frühjahr erst dann in die generative Phase eintreten, wenn optimale Entwicklungsbedingungen für die Kornbildung zu erwarten sind.
Sowohl Sommer- als auch Wintergetreide gehören zu den Langtagspflanzen. Die für das Schossen und die Blüte zuständigen Hormone werden erst aktiviert, wenn deren enzymatische Gegenspieler mit zunehmender Tageslänge abgebaut werden. So ist sichergestellt, dass unsere heimischen Getreidearten spätestens im Mai schossen und rechtzeitig bis zum Hochsommer ausgereifte Samen produzieren.
Bei Wintergetreide gibt es ein zweites Sicherungssystem für die standortangepasste Pflanzenentwicklung – die Vernalisation: Erst nach einer vier- bis achtwöchigen Wachstumsperiode mit niedrigen Temperaturen zwischen mindestens null und maximal zehn Grad werden – bei zunehmender Tageslänge – die weiteren Entwicklungsschritte Schossen und Blüte aktiviert. Der Vernalisationsbedarf und die Langtagsreaktion des Wintergetreides stellen gemeinsam sicher, dass die Getreidepflanze selbst bei sehr günstigen Wachstumsbedingungen nicht vorzeitig im Herbst schosst – dafür jedoch selbst bei weniger wüchsiger Witterung rechtzeitig im Frühjahr. Entsprechend der regionalen Herkunft bzw. Verbreitung der Wintergetreidearten und -sorten unterscheiden sich diese erheblich in ihrer Reaktion auf diese Umweltreize.
Das mitteleuropäische Weizensortiment kann dabei in unterschiedliche Sortentypen eingeteilt werden:
- Atlantische Sortentypen benötigen aufgrund ihrer Adaption an lange Wachstumsphasen mit kühlen Temperaturen über Null eine längere Vernalisationszeit. Die Taglängenreaktion dieser Sorten ist besonders ausgeprägt in Anpassung an die dort spätere und längere Kornfüllung.
- Kontinentale Sortentypen brauchen – ebenso wie übrigens Winterroggen – weniger Vernalisationszeit und eher niedrige Temperaturen. Wo raue Winter abrupt beginnen und enden, ist die frostfreie Zeit während der Vegetationsruhe sehr kurz. Ein tagneutraleres, stärker temperaturgesteuertes Schossverhalten ist dort vorteilhaft für die erforderliche frühe Kornfüllung.
- „Französische“ Sortentypen sind für Regionen mit milden Wintern entwickelt und benötigen dort für den Eintritt in die generative Phase einen quantitativ und qualitativ geringeren Kältereiz. Photoperiodisch verhalten sie sich vergleichsweise neutral. Die Ertragsbildung ist bei diesen Sortentypen bis zum Frühsommer weitgehend abgeschlossen. Sie müssen dafür im Frühjahr nach einer kräftigen Jugendentwicklung früh schossen.
Kompensation über Ertragsstruktur
Mit ihrer äußerst plastischen Ertragsstruktur kann die Getreidepflanze Kälte-, Hitze- oder Trockenstress hervorragend kompensieren. Jeder Praktiker weiß, dass auch dünne Bestände wie 2009 über hohe Einzelährenerträge gut dreschen können. Oder 2010, wo über die gute Einkörnung im idealen Mai trotz sehr schwacher Kornausbildung die Erträge am Ende doch meist stimmten. Die Kompensationsfähigkeit eines Getreidebestandes ist nur bei extremen Witterungsverläufen überfordert. Etwa bei der Jahrhunderthitze im Sommer 2003, nach dem tropischen Winter 2003 oder 2011 nach mehrmonatiger Frühjahrstrockenheit.
Für jede Anbausituation der passende Sortentyp
Um Ertrag, Anbaueigenschaften und Qualität immer besser zu kombinieren, haben die Pflanzenzüchter die Besonderheiten der o.g. genannten Genpools in über 100 Jahren systematischer Kreuzung immer weiter kombiniert. Das Ergebnis ist die weltweit einmalige und ständig wachsende Mannigfaltigkeit des deutschen Weizensortiments. Die Entwicklungsunterschiede spreizen sich von der frühesten bis zur spätesten Sorte über mindestens 10 Tage. Die Ertragskomponenten differieren um etwa 100 Ähren je m², 10 Körner je Ähre oder 10 g Tausendkornmasse – bei gleichen Anbauvoraussetzungen!
Um etwas „Ordnung“ in die Vielfalt des Sortiments zu bekommen, sind in Tab. 1 ausgewählte Sortenvertreter in ihrer generativen Entwicklung und Ertragsstruktur dargestellt. Von links nach rechts vergrößert sich der Anspruch an die Tageslänge und Vegetationszeit, von unten nach oben sind sogenannte Korndichtetypen über Bestandestypen bis hin zu ausgeprägten Einzelährentypen dargestellt. Die Versuchung ist groß, aus diesen Entwicklungsunterschieden Rückschlüsse auf die Anbaueignung zu ziehen.
Dabei ist eines offensichtlich: Den idealen Sortentyp gibt es nicht, aus beinahe allen Bereichen der Sortenmatrix rekrutierten sich nachhaltig erfolgreiche Sortenvertreter. Das ist auch zu erwarten. Schließlich werden ausschließlich Sorten zugelassen, die dreijährig und bundesweit im Mittel vieler Umwelten überzeugt haben. Genotypen mit ganz spezifischen Ansprüchen an den Standort oder den Anbau haben daher wenige Chancen auf Zulassung. Das macht auch durchaus Sinn, denn die Unterschiede der Wachstumsbedingungen über die Jahre sind mittlerweile größer als die aus den Witterungsverläufen resultierenden Standortunterschiede. Daraus ist jedoch nicht umgekehrt zu schließen, dass mit einer typgerechten Positionierung und Behandlung kein höherer Anbauerfolg möglich wäre. Im Gegenteil: Gerade weil die Sorten unter Praxisbedingungen hinsichtlich Standortgüte, Saatzeit, Intensität oder Vorfrucht stärker gefordert werden, sollten unterschiedliche Sortentypen gezielt eingesetzt und behandelt werden.
Wenn es um den Höchsterträge geht: spätere Korndichte-Typen
Spätere Hochertragsweizen – typisch vertreten durch T* – verkörpern den angesprochenen atlantischen Sortentyp. Sie spielen ihre Stärken am ehesten auf Hochertragsstandorten mit später und langsamer Abreife aus. Dort, in den norddeutschen Küstenregionen, sind sie herausragend leistungsfähig und auch anbausicher. Beim Anbau ist zu beachten, dass diese Sorten aufgrund ihrer starken Einkörnung und der daraus resultierenden starken Konkurrenz innerhalb der Ähre in der Kornausbildung stärker abfallen können. Gerade auf weniger guten Böden sollten sie deshalb rechtzeitig und dünn gesät werden, zumal auch die Nebentriebe dieser Sorten sehr leistungsfähig sind. Wichtig ist eine ausreichende, ertragsangepasste Stickstoffversorgung ab Schossbeginn. Aufgrund ihrer Ährenmorphologie und längeren Kornfüllung sind diese Sorten häufig stärker von Ährenfusarium bedroht, das ist hinsichtlich Standort, Fruchtfolge, Bodenbearbeitung und Fungizideinsatz zu berücksichtigen. Auf weniger optimalen Standorten und auf früh abreifenden Standorten sind weniger langtagsbestimmte Sorten zu bevorzugen. Tobak, Estivus, Kredo, Elixer und auch Forum schieben die Ähre vergleichsweise früh, leiden weniger unter der Julihitze und sind deshalb stabiler in der Tausendkornmasse.
Keine Kompromisse bei der Kornqualität: spätere Einzelähren-Typen
Unschlagbar bei schneller Abreife und vor Raps: frühe Sorten
Aus Platzgründen soll hier vor allem auf die frühen Korndichte- und Bestandestypen eingegangen werden. Hier steht mit der Neuzulassung Rumor erstmalig eine sehr frühe, hoch leistungsfähige und dazu noch winterharte Sorte zur Verfügung. Gerade in abtragender Fruchtfolgestellung vor Raps wird solch eine Sorte dringend gebraucht, zumal andere frühreife Sorten 2012 nach Auswinterung häufig enttäuschten. Anbautechnisch kommt es bei diesem Sortentyp gerade in raueren Regionen darauf an, die frühe Ertragsfixierung über standortangepasst sehr hohe Korndichten zu unterstützen. Dies ist auch deshalb wichtig, weil dieser Sortentyp Mängel in der Jugendentwicklung kaum durch eine überproportionale Kornausbildung kompensieren wird. In der Praxis bedeutet dies: Vor allem in rauen Lagen rechtzeitige Aussaat in ein optimales Saatbett, bei Spätsaaten deutliche Saatgutzuschläge, kräftige Andüngung, als Stoppelweizen evtl. bereits im Herbst eine DAP-Düngung zur Förderung der Jugendentwicklung. Ähnliches gilt für die frühe Hybridsorte Hystar. Diese benötigt ebenfalls hohe Bestandesdichten, aufgrund der bei Hybriden zu empfehlenden dünnen Aussaaten kommen ausschließlich Frühsaaten infrage. Diese Sorte ist weniger für raue Lagen geeignet, zumal sie sich bei frühen Wärmephasen ausgangs Winter leicht enthärtet.
Die Ansprache eines Weizentyps nach der Taglängenreaktion, der Reifezeit und der Ertragsstruktur hilft, Neuzulassungen besser zu „verstehen“ und damit gezielter zu platzieren und sortengerechter zu produzieren. Allerdings gibt es – etwa hinsichtlich der Resistenzen gegen abiotische und biotische Stressfaktoren – zahlreiche weitere wichtige Sorteneigenschaften, die unabhängig vom Sortentyp zusätzlich zu berücksichtigen sind.
Sven Böse
Die Eignung einer Weizensorte als Stoppelweizen kann nicht aus dem Sortentyp, aus der Optik und auch nicht zuverlässig aus der Fußgesundheit abgeleitet werden – dafür gibt es die produktionstechnischen Versuche der SAATEN-UNION. Dort waren mehrjährig die Sorten Elixer, Genius, Glaucus, Hystar, Mulan und Tobak besonders leistungsfähig in der Stressvariante. Diese fiel absolut um 50–200 €/ha ab, je nach Standort. Neben diesen Ergebnissen ist auch das Qualitätsziel (Genius E) und die Fusariumanfälligkeit (Tobak) einer Sorte im Hinblick auf die Vorfrucht, Saatzeit und Bodenbearbeitung zu berücksichtigen. |