Nach massiver technologischer Entwicklung ist Züchtung im Jahr 2012 modernste angewandte Wissenschaft und Technologie.
Trotz dieser technologischen Fortschritte sind für die Entwicklung einer neuen Sorte von der Kreuzung bis zur Vermarktung je nach Züchtungsverfahren 10 bis 15 Jahre notwendig (s. Tab. 1).
Man kann diese Zeitspanne wegen aufwendiger Prüfungen in Freiland und Labor auch nicht auf weniger als 10 Jahre reduzieren.
Mit anderen Worten: Züchtung – und damit Zuchtfortschritt – ist sehr kostenaufwendig! Und jedes weitere Züchtungsziel, das aus neuen Anforderungen resultiert, führt zu exponentiell steigenden Entwicklungskosten.
Sorte ist das profitabelste Betriebsmittel
Zu diesem Schluss kommen zahlreiche Untersuchungen. So schlagen die Lizenzzahlungen für den Züchtungsaufwand selbst bei 100%igem Saatgutwechsel nur mit knapp 1 % zu Buche (s. Abbildung 1). Der wirtschaftliche Nutzen ist jedoch um ein Vielfaches höher. Um ihre aufwendige Entwicklungsarbeit zu finanzieren, sind die Pflanzenzüchter auf die Einnahmen aus Lizenzen und Nachbaugebühren angewiesen. Die Nutzung ihres geistigen Eigentums muss so honoriert werden, dass zukünftige Sortenentwicklungen möglich sind. Mit dem jetzigen System kommt die Nutzungsgebühr jedoch nicht ausreichend beim Züchter an.
Ertrag reicht nicht!
Man kann heute in Deutschland Qualitätsweizen auf höchstem Ertragsniveau produzieren, weil die negative Beziehung zwischen dem Kornertrag und der Backqualität heute deutlich schwächer ist als noch vor 15 Jahren.
Züchtung hat die agronomischen Eigenschaften vieler Sorten so verändert, dass sie mit den „Strapazen“ heutiger fachlicher Praxis besser zurechtkommen: Weizen in Selbstfolge, hoher Krankheitsdruck in engen Fruchtfolgen, frühe Saattermine. Die früh gesäten Sorten z.B. müssen frost- und virustolerant sein und im Herbst nur verhalten wachsen. Die Züchtung trägt also auch wesentlich zur Stabilisierung der Kornerträge bei. Auch die Resistenzausstattung einer Sorte spielt bei der Ertragssicherung eine wesentliche Rolle. Resistenzzüchtung ist zwar extrem aufwendig, aber auch sehr erfolgreich, obgleich auch neue Sorten nie über eine „absolute und ewige“ Gesundheit verfügen werden.
Wettrüsten zwischen Erreger und Pflanze
Auf dem Acker findet, wie auch in der unberührten Natur, ein ständiges Wettrüsten zwischen Erregern und Pflanzen statt. Erreger passen sich Resistenzmechanismen an und entwickeln neue Rassen. Aufgrund dieser Vorgänge schwächt sich die genetische Widerstandsfähigkeit einer Sorte oft ab (s. Tab. 2). Höhere Pflanzenschutzaufwendungen oder/und geringere Erträge sind die Folge. Der Züchter von Kulturpflanzen steuert dem entgegen und muss die Resistenzen über die Entwicklung neuer Sorten ständig optimieren.
Weiterentwicklung der Züchtungsmethodik für mehr Effektivität
Künftig werden auch Stresstoleranz, Wurzelleistung und Nährstoffeffizienz wichtiger. Wir müssen heutige und zukünftige Züchtungsziele jedoch auch im Zusammenhang mit den Züchtungskosten diskutieren und bewerten. Eine verbesserte Produktivität der Züchtung kann die Züchtungskosten effektiv senken. Dazu gehörten in der jüngsten Vergangenheit die „Computerisierung“ der Arbeitsabläufe, neue Aussaattechniken (Mikroplots), satellitengestützte Planung sehr großer Freiland-Versuchsanlagen inkl. GPS-Steuerung der Versuchstechnik, eine europäische Standortoptimierung sowie Spektroskopie-Geräte für Messungen im Labor und im Freiland.
Ausblick: Fortschritt durch „interne und externe“ genetische Information
Bei der klassischen Selektion wird die „interne“ genetische Information des Weizengenoms genutzt, das ein enormes Rekombinationspotenzial besitzt. Hierzu kommen sowohl klassische, bewährte Testverfahren im Freiland als auch die neue „molekulare“ Technik zum Einsatz (z.B. die Marker gestützte Selektion).
Überaus aufwendige Verfahren der Gentechnik ermöglichen es, die „externe“ genetische Information in den Weizen „einzuschleusen“. In der Praxis der Sortenentwicklung spielt derart entstandenes Zuchtmaterial noch keine Rolle. Derzeit geht es zunächst darum, wissenschaftlich zu beweisen, dass man auf diese Art neue, sehr wichtige Sorteneigenschaften genetisch verankern kann. Dies kann die klassische Züchtung nicht erreichen, weil eine Rekonstruktion dieser Eigenschaften aus dem arteigenen Genom nicht möglich ist. Beispiele hierfür sind neue, qualitativ vererbte Eigenschaften wie die Resistenz gegen einen bestimmten Schaderreger. Diese Technologie macht es zudem möglich, Eigenschaften auch quantitativ massiv zu beeinflussen z.B. bei der Modifikation der Stoffwechselprozesse, die zu einer sprunghaften Erhöhung des physikalischen Wirkungsgrades der Stoffwechselprozesse bei der Ertragsbildung führen könnten.
Welche Innovation duldet Europa?
Die Ansprüche an die weltweit bedeutende Kulturart Weizen steigen ständig und werden so weit wie möglich durch die klassische Züchtung und biotechnologische Verfahren erfüllt. Damit sind jedoch bestimmte Zuchtziele nicht realisierbar. Wenn der Markt aber diese Zuchtziele fordert, weil er glaubt, sie zu benötigen, müssen sich Öffentlichkeit und Politik in „angemessener“ Weise längerfristig mit Gentechnik und dem Anbau gentechnisch veränderter Kulturpflanzen auseinandersetzen. In jedem Fall aber müssen die Möglichkeiten dieser neuen Technologien – also auch der Gentechnik – auf „Herz und Nieren“ geprüft werden. Können sie diese angestrebten Zuchtziele tatsächlich realisieren? Und: Brauchen wir diese Sorteneigenschaften denn notwendigerweise, bringen sie uns tatsächlich den erhofften Nutzen? Für Winterweizen jedenfalls ist die Innovation in der Gentechnologie keinesfalls nachgewiesen – weder in Deutschland noch in anderen Ländern.Letztlich heißt die Frage jedoch: Welche Innovationen braucht und wie viele duldet Europa – wie viel Verzicht und wie viel Fortschritt kann und will sich der Kontinent leisten?
Dr. Ralf Schachschneider