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Weizen-Mythencheck: Macht Weizen dick und krank?

Mit dem Thema „gesunde Ernährung“ werden wir in den Medien täglich konfrontiert. Dazu gehört vielfach auch die Botschaft, dass ein Verzicht auf Weizen gesundheitlich von Vorteil sei – der Markt für glutenfreie Lebensmittel boomt. In diesem ernährungswissenschaftlichen Mythencheck trennt Dr. Heiko Zentgraf die Spreu vom Weizen und liefert Argumente für den Dialog mit Medien und Kunden.

Widersprüchliche ernährungs- und gesundheitsbezogene „Weizen-Weisheiten“ verunsichern nicht nur die Bevölkerung, sondern auch alle, die professionell damit zu tun haben – vom Saatgut bis zur Semmel. Mit dem Buch „Weizenwampe – warum Weizen dick und krank macht“ gab der amerikanische Bestsellerautor Dr. William Davis den Startschuss für den negativen Hype rund um Weizen und Gluten: Weizen ist für ihn „Quelle allen Übels”.


„Krankmacher”-Hypothese widerlegt

Seine These: „Moderner“ Weizen enthalte durch intensive Züchtung neue, potenziell „toxische“ Proteine – allen voran die für eine Vielzahl von Zivilisationskrankheiten verantwortlich zu machenden Glutenproteine. Diese „Krankmacher“-Hypothese wurde aktuell im Rahmen des WheatScan-Projekts klar widerlegt: „Moderne“ Weizensorten enthalten weder neuartige Proteine noch höhere Eiweiß­gehalte. Das konnte an einem Probensortiment mit 60 alten und neuen Weizensorten (je fünf pro Dekade 1890–2010) gezeigt werden, die über drei Jahre an gleichem Standort angebaut wurden.

Die anschließende Analytik an der TU München ergab folgende 100-Jahre-Trends:

  • Abnahme der Gehalte an Rohprotein, Albuminen/Globulinen und Gliadinen
  • Zunahme der Gehalte an Gluteninen
  • Deutliche sortenspezifische und erntejahrabhängige Unterschiede

Ein historisch-analytischer Blick vom Deutschen Reich bis in die Gegenwart auf die Ergebnisse für deutschen Winterweizen aus der Besonderen Ernteermittlung (und ihren Vorläufern) widerlegt ebenfalls die Hypothese vom „bösen modernen“ Weizen:

  • Die Proteinwerte sind bei den Ernten über Jahrzehnte im Mittel nahezu unverändert.
  • Die Feuchtklebergehalte schwanken stark erntebedingt – mit einer zunächst leicht steigenden Trendlinie (Stichwort „Backqualität“), in den letzten 25 Jahren jedoch konstant mit zuletzt geringfügig sinkender Tendenz.

Weizen macht nicht dick

Zu viele Kalorien, egal woher sie stammen, und zu wenig körperliche Bewegung führen zu Übergewicht. Es ist zwar richtig, dass kohlenhydratarme Diätkonzepte („Low Carb“) kurzfristig zu einer schnellen Gewichtsabnahme führen, langfristig haben sie aber keinen besseren Erfolg als andere Diätkonzepte. Es gibt mehr AbbrecherInnen als bei Schlankheitskostformen, die auf Ausgewogenheit setzen. Wissenschaftlich-praktische Tests zeigen, dass man auch mit Brot das Gewicht um einige Kilos erfolgreich reduzieren kann („Brotdiät“). Aber ein langfristig stabil niedrigeres Gewicht ist immer nur durch eine dauerhafte Nahrungsumstellung in Kombination mit mehr Bewegung zu erreichen.


Mythos Weizenwampe
Mythos Weizenwampe

Weizen macht nicht krank, aber …

der Wei

zenverzehr und Zivilisationskrankheiten wie z. B. Diabetes, Fettstoffwechselstörungen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen, stiegen rein statistisch zeitgleich. Medizinisch gesicherte Kausalitäten dafür gibt es aber nicht! Gründe könnten auch in den insgesamt stark veränderten Lebensgewohnheiten liegen.

Anders ist die Sachlage, wenn Weizen/Gluten/Gliadin nicht vertragen wird und körperliche Beschwerden auslöst, denn das kann ernstzunehmende medizinische Gründe haben:

  • Von Allergien im medizinischen Sinne spricht man, wenn diese immunvermittelt sind, d. h. es lassen sich bestimmte Immunglobuline im Blutserum nachweisen. Dabei richten sich Immunreaktionen auf Weizen meist gegen die Glutenproteine, besonders die Omega-5-Gliadine, die Teil des Klebereiweißes sind.
  • Bei der Zöliakie handelt es sich um eine immunvermittelte systemisch-chronische Darmerkrankung mit Schädigung der Darmschleimhaut, hervorgerufen durch Eiweiß-Stoffwechselprodukte von Gluten (bzw. bei Weizen Gliadin), die über die Darmwand aufgenommen werden und das Immunsystem aktivieren.
  • Darüber hinaus kann es weitere Glutensensitivitäten geben. International hat man sich darauf verständigt, diese vorläufig unter dem Begriff „Non-Celiac Gluten/Wheat Sensitivity“ zu fassen. Dies beschreibt als Ausschlussdiagnose das Krankheitsbild derjenigen Patienten, die über „glutentypische“ Beschwerden klagen, jedoch weder eine Zöliakie noch eine Allergie haben. Ob auch andere Getreideinhaltsstoffe (mit-)verantwortlich sind, muss noch weiter erforscht werden. Welche Rolle z. B. die Amylase‐Trypsin‐Inhibitoren (ATIs) aus Weizen als Aktivatoren einer angeborenen Immunantwort spielen könnten, wird zurzeit in Forschungsprojekten nachgegangen.

Ein „Diät-Szenario“ auf Grundlage von Expertenschätzungen zeigt, dass bei rund 5 % der deutschen Erwachsenen eine glutenfreie Diät medizinisch sinnvoll sein kann: Ca. 95 % der Bevölkerung können also ihre gewohnten, liebgewonnenen Lebensmittel aus glutenhaltigen Getreidearten beschwerdefrei und mit gutem Gewissen genießen. Als gesunder Mensch eine glutenfreie Diät zu halten, bringt keine gesundheitlichen Vorteile. Ärzte, wie die des Universitätsklinikums Freiburg, raten mit Blick auf eine bedarfsgerechte Nährstoffversorgung sogar ausdrücklich davon ab.


Nährstoffprofil von Weizen; zum Vergrößern bitte Anklicken

Nährstoffprofil von Weizen; zum Vergrößern bitte Anklicken


Gutes Nährstoffprofil des Weizens

Anders als häufig behauptet, wartet Weizen (als „Vollkorn-Rohstoff”) mit einem günstigen Nährstoffprofil auf (siehe Tab. 1):

  • Energieliefernde Nährstoffe: Mit relativ wenig Fett und Zucker, aber überdurchschnittlich viel gesundheitsfördernden Ballaststoffen schneidet Weizen gut ab.
  • Vitamine: In der getreidetypischen B-Gruppe punktet Weizen gegenüber dem Getreidedurchschnitt bei vier von sieben dieser unverzichtbaren Nährstoffe. Er ist zudem auch eine wichtige Quelle für Vitamin E.
  • Mineralstoffe: Die Gehalte bei Weizen liegen für Kalium und Calcium knapp über dem Mittel, für Magnesium und Eisen leicht darunter.

Marktausblick

Der Umsatz mit glutenfreien Lebensmitteln in Deutschland wird zzt. auf ca. 200 Mio. € geschätzt, bei einer Käuferreichweite von 1,8 Millionen, was ihre Marktbedeutung relativiert. Anders als die Amerikaner sind die meisten Deutschen bei ihren Konsumgewohnheiten offenbar relativ immun gegen die Botschaft „Weizenverzicht“: Seit Erscheinen des Buchs „Weizenwampe“Anfang 2013 und dem anschließenden glutenfreien Medien-Hype ist die Herstellung von Typenmehlen und Vollkornmahlerzeugnissen aus Weizen mit umgerechnet rund 65 kg pro Kopf und Jahr unverändert stabil.

 

Prof. Dr. Friedrich Longin, Universität Hohenheim

„Wir Züchter haben gezielt auf höheren Ertrag, bessere Gesundheit im Feld, Standfestigkeit selektiert und auf bessere Backeigenschaften. Diese wurden anhand einfacher Labortests wie Sedi oder Backversuch gemessen.

Dabei können wir maximal die exprimierten Mengen an Proteinen ganz leicht verändern, aber wir können mit klassischer Züchtung nichts völlig im Weizen Unvorhandenes reinzüchten. Wir können also vergleichsweise wenig im Vergleich zu dem, was die Natur in der Evolution des Weizens geschafft hat: Zwei genomisch unterschiedliche Wildgräser haben sich gekreuzt, es kam zu spontanen Nachkommen, die den doppelten Chromosomensatz hatten – so entstand Emmer. Und Emmer hat sich nochmals mit einem Wildkraut gekreuzt und es entstand der sehr fruchtbare Weizen. Diese Prozesse im Labor nachzuvollziehen, ist extrem aufwändig – die Natur hat es vor 8.000 Jahren gemacht.”

 

 

Weiterführende Links

zur Kritik an „Weizenwampe“ im Detail:
Fachbeitrag von Julie Jones in „Cereal Technology“
https://www.gmf-info.de/fachkritik-weizenwampe.pdf

https://www.topagrar.com/acker/news/anti-weizen-welle-weizenzuechter-widerspricht-maer-vom-boesen-weizen-9863605.html

https://www.daserste.de/information/ratgeber-service/haushaltscheck/sendung/ist-weizen-boese-100.html

https://www.baeko-magazin.de/aktuell/messen/22-09-2019-die-aehrenrettung-des-weizen/

zu Nahrungsmittel-Allergien:
Webseite des Deutschen Allergie- und Asthmabundes (DAAB)
https://www.daab.de/ernaehrung/nahrungsmittel-allergien/was-ist-das/erscheinungsbilder/

zu Zöliakie/glutenfreie Ernährung:
Webseite der Deutschen Zöliakie-Gesellschaft (DZG)
https://www.dzg-online.de/glutenfreie-ernaehrung.7.0.html

https://www.haz.de/Nachrichten/Wirtschaft/Deutschland-Welt/Sind-Dinkel-und-Emmer-gesuender-als-Weizen

https://www.uniklinik-freiburg.de/presse/publikationen/im-fokus/ist-glutenfreie-kost-schaedlich-fuer-gesunde.html

zu Glutensensitivität:
Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Allergologie und klinische Immunologie
http://www.dgaki.de/wp-content/uploads/2018/08/Reese-I-et-al-Nicht-Zoeliakie-Gluten-Weizen-Sensitivitaet-NCGS-DGAKI-Positionspapier-Allergo-Journal-8-2018.pdf

zu allgemeinen Ernährungsempfehlungen:
Der DGE-Ernährungskreis für vollwertige Lebensmittelauswahl
https://www.dge.de/ernaehrungspraxis/vollwertige-ernaehrung/ernaehrungskreis/

zur „Brotdiät“:
Schlank & fit mit Backen & Brotzeit
https://www.gmf-info.de/180524_brotdiaet.pdf



Interview zum Thema „Sensitivität“ aus fachwissenschaftlicher Sicht

Kritische Position zum unbegründeten Glutenverzicht

 

H. Zentgraf; Foto privat
H. Zentgraf; Foto privat
I. Reese, Foto privat
I. Reese, Foto privat

Krank durch Weizen, Gluten und ATI? Bei einem Vortrag zu „Krankheitsbildern, Diagnostik und Therapie: Zwischen Konsens und Nonsens“ präsentierte die Münchener Ernährungstherapeutin Dr. Imke Reese ein kritisches Positionspapier der Arbeitsgruppe Nahrungsmittelallergie der Deutschen Gesellschaft für Allergologie und klinische Immunologie (DGAKI), das wichtige Überlegungen aus allergologischer und ernährungsphysiologischer Sicht auf den aktuellen wissenschaftlichen Stand bringt. Über die Hintergründe sprach Heiko Zentgraf mit Frau Dr. Reese, die gemeinsam mit 26 führenden ExpertInnen aus Allergologie, Gastroenterologie, Ernährungswissenschaft und einer Patientenorganisation diese Stellungnahme der „Task Force Food Allergy“ im Allergo Journal International publiziert hat.

Frau Dr. Reese, gibt es einen aktuellen Anlass für die Formulierung ihrer fachkritischen Position?

Reese: Die „Nicht-Zöliakie-Gluten-/Weizen-Sensitivität (NCGS: non celiac gluten sensitivity)“ ist nicht nur bei Laien, sondern auch zunehmend in Fachkreisen eine populäre Diagnose. Ob es sich tatsächlich um eine eigenständige Erkrankung handelt und welcher Inhaltsstoff des Weizens der verantwortliche Auslöser ist, wird seit Jahren kontrovers diskutiert. Trotzdem essen immer mehr Menschen glutenfrei und versprechen sich davon Gesundheitsvorteile. Diesem Trend wollten wir entgegenwirken.


Was ist der Hintergrund der Kontroverse?

Der Pathomechanismus ist unklar und aussagekräftige Diagnoseparameter fehlen. Aufgrund häufiger Selbstdiagnosen, unklarer Häufigkeit und unbestätigter Entstehung der NCGS bräuchten wir dringend geprüfte Diagnosekriterien und/oder verlässliche Laborwerte als Voraussetzung für eine Therapie.


Warum ist eine verlässliche Diagnose in der Praxis so schwierig?

Gluten konnte bislang nicht sicher als Auslöser einer NCGS identifiziert werden, was zwei wesentliche Gründe hat. Zum einen gibt offensichtlich sowohl Nocebo- wie Placebo-Effekte – also entweder nur scheinbar negative Reaktionen oder überschätzte positive Wirkungen. Zum anderen erschweren zahlreiche Störgrößen die Bewertung subjektiver Symptome unter glutenarmer/-freier Kost. Eine glutenarme Kost kann je nach Lebensmittelauswahl physiologische Verdauungseffekte unabhängig vom Gehalt an Gluten erzielen. Darmbeschwerden können unabhängig vom Vorhandensein einer Unverträglichkeit im Zusammenhang mit der Lebensmittelauswahl und Mahlzeitenzusammensetzung stehen. Auch wird einzelnen Komponenten der Nahrung (z. B, löslichen Ballaststoffen) ein besonderer therapeutischer Nutzen zugeschrieben. Wenn eine glutenfreie Kost so umgesetzt wird, dass deutliche Veränderungen der physiologischen Verdauung eintreten, spricht das für einen maßgeblichen Einfluss der Lebensmittelauswahl, aber nicht zwangsläufig für Gluten als Ursache.


Und welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang die ebenfalls weit verbreitete Diagnose „Reizdarm“?
In der medizinischen Reizdarm-Leitlinie von 2011 wird eine zeitlich begrenzte Glutenreduktion und keine Glutenfreiheit empfohlen. Denn Reizdarm-Betroffene profitieren oft von der Veränderung der Ballaststoffqualitäten. Eine Besserung der Beschwerden wird vor allem dann beobachtet, wenn parallel zur Reduktion von Getreideballaststoffen die Zufuhr löslicher Ballaststoffe erhöht wird. Insofern ist für Reizdarm-Betroffene dann eine positive Wirkung zu erwarten, wenn unter Glutenreduzierung vermehrt auf eine gemüsebetonte Kost ausgewichen wird. Das ist dann aber nicht der Elimination von Gluten zuzuschreiben.


Wo sehen Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen einen Ausweg aus diesem Dilemma?

Aktuell kann wegen fehlender überzeugender Diagnosekriterien bei Verdacht einer NCGS ausschließlich eine umfassende Differential-Diagnostik empfohlen werden. Hierzu gehören eine sorgfältige Anamnese, einschließlich eines Ernährungs- und Symptomtagebuchs, eine allergologische Diagnostik und der sichere Ausschluss einer Zöliakie. Unsere Arbeitsgruppe befürwortet ein derartiges strukturiertes Vorgehen, da ohne eine medizinisch gesicherte Diagnose eine längere Glutenkarenz nicht zu empfehlen ist. Von Selbstdiagnosen mit anschließendem komplettem Gluten- oder Weizenverzicht kann nur abgeraten werden, weil uns das den sicheren Ausschluss einer Zöliakie nur unnötig erschwert.


Apropos Zöliakie – wo liegt der Unterschied zur Glutensensitivität?

Eine Zöliakie erfordert eine lebenslange streng glutenfreie Kost, um diese Autoimmunerkrankungen erfolgreich zu therapieren. Allerdings sind Betroffene in der Regel in ernährungstherapeutischer Betreuung, so dass Nachteilen und Risiken dieser Kostform [s. Kasten] von Anfang an entgegengewirkt werden kann. Führen – vermeintlich – Betroffene einer Glutensensitivität eine glutenfreie Kost durch, erfolgt dies meist ohne ernährungstherapeutische Betreuung, d.h. Nachteile und Risiken werden nicht erkannt. Die Einhaltung einer Glutenfreiheit ist nur bei eindeutiger medizinischer Diagnose (Zöliakie) sinnvoll und notwendig.

Frau Dr. Reese, vielen Dank für das Gespräch!

In der Literatur dokumentierte Risiken einer glutenfreien Kost ohne medizinische Indikation:

  • Maskierung einer bislang unerkannten Zöliakie,
  • Triggern einer Essstörung inkl. einer Orthorexia nervosa,
  • Auslösen oder Verstärken einer Stuhlverstopfung bis zu möglichen Enddarmerkrankungen und erhöhte Gefahr einer Fettstoffwechselstörung.

Hinzu kommen eindeutige Nachteile der glutenfreien Kost an sich, die sich bezüglich einer ausreichenden Nährstoffzufuhr, der Lebensqualität, der Kosten und möglicher Schwermetallbelastungen ergeben können. Quelle: Allergo J Int 2018;27:147–51

 

 

 

 

Stand: 18.12.2019